Dienstagsdialog des Förderfonds Wissenschaft in Berlin

Wer länger lebt, ist öfter krank? Multimorbidität im höheren Alter

1. Juni 2021

 
Mit Prof. Dr. Paul Gellert

Professor für sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie und
Nachwuchsgruppenleiter am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin
 

 
"Jeder möchte lange leben, aber keiner will alt werden", sagte Jonathan Swift, Autor des Buches "Gullivers Reisen". Lebenserwartung und Lebensdauer sind Themen, die jeden von uns essentiell betreffen. Die Zahl der Hundertjährigen nimmt seit Jahrzehnten weiter zu. Doch wie viele Jahre, die wir dazu gewinnen, werden wirklich gesunde Jahre sein? Und umgekehrt: Wenn wir immer älter werden, werden wir dann auch immer mehr Jahre in Krankheit verbringen? Diesen und weiteren Fragen ging Paul Gellert in seinem Dienstagsdialog "Wer länger lebt, ist öfter krank? Multimorbidität im höheren Alter" auf den Grund.

Jeanne Calment (geboren 1875 in Arles/Frankreich, gestorben 1997 ebenda) hält seit 1990 mit 122 Jahren den Rekord des höchsten erreichten Lebensalters eines Menschen. Hundertjährige gelten häufig als Vorbilder für ein gesundes und erfolgreiches Altern. Im Jahre 1980 lebte nur etwa eine von 10.000 Personen in den entwickelten Ländern über das Alter von 100 Jahren hinaus. In diesem Jahrhundert hingegen könnte jedes zweite in einem entwickelten Land geborene Kind mit einer derart hohen Lebenserwartung rechnen. Schon heute lebten bereits über 19.000 Hundertjährige in Deutschland − Tendenz steigend.

Der Heidelberger Hundertjährigen-Studie II (2016) zufolge weisen mehr als 37 Prozent der Hundertjährigen mehr als fünf Erkrankungen auf. Hier spricht man von Multimorbidität. Eine Untersuchung der prozentualen Verteilung von Krankheiten der AOK Nordost bei Hundertjährigen ergab: Bei 66 Prozent handele es sich um demenzielle Erkrankungen, bei 64 Prozent um Erkrankungen des Bewegungsapparates und bei 56 Prozent um Herzinsuffizienz, gefolgt von weiteren, weniger häufig vorkommenden Erkrankungen wie Diabetes (31 Prozent), Niereninsuffizienz (28 Prozent) oder Krebserkrankungen (14 Prozent). In einer weiteren Studie mit Daten der Knappschaft wurden drei Gruppen hochaltriger Menschen am Lebensende hinsichtlich ihrer Erkrankungshäufigkeit untersucht. Ein Vergleich von hochaltrigen Personen, die 80-jährig und älter, 90-jährig und älter sowie 100-jährig und älter verstarben, zeigte hierbei, dass der Anstieg der Krankheiten, aber auch die Anzahl chronischer Erkrankungen bei den über Hundertjährigen niedriger ausfiel als in den beiden anderen Vergleichsgruppen.

Die von James F. Fries in den 1970er-Jahren entwickelte Kompressionsthese besagt, dass immer mehr Menschen relativ gesund alt werden und erst als Hochbetagte in ihren letzten Lebensjahren einen hohen Bedarf an medizinischen Leistungen entwickeln. Auch wenn Alter nicht vor Krankheit schützt, werde die Phase der ausgeprägten Multimorbidität also in ein höheres Alter verlegt und gewissermaßen komprimiert. Nach Gellert könne man dieser These aber nicht uneingeschränkt zustimmen. Im kardiovaskulären Bereich habe zwar eine Verschiebung und Prävalenzsenkung schon in jüngeren Lebensjahren stattgefunden, und auch bei der allgemeinen physischen Gesundheit der über 70-jährigen lasse sich eine eindeutige Verbesserung nachweisen. Auf der anderen Seite könne man aber schon unter dieser Gruppe eine steigende Inzidenz von Diabetes, Krebserkrankungen oder Schlaganfällen feststellen. Eine Verringerung der Krankheitslast lasse sich absehen, aber nicht zwingend eine Kompression der Morbidität. Die medizinische Entwicklung führe auch dazu, dass Krankheiten besser überlebt werden können und die Menschen Wege fänden, damit besser zurecht zu kommen.

Der Erhalt von geistiger Gesundheit und Beweglichkeit spiele Gellert zufolge eine entscheidende Rolle in den Bereichen Prävention, Behandlung und Pflege von Menschen im hohen Alter. Zudem bestehe eine hohe Pflegebedürftigkeit der Hundertjährigen und verlange bei der steigenden Anzahl dieser Gruppe von Menschen ein stärkeres Umdenken in der Langzeitpflege und in der häuslichen Pflege. Eine Studie zu Japan habe gezeigt, dass dort insgesamt mehr Hundertjährige während der Corona-Pandemie überlebt hätten. Dies sei unter anderem auf den besseren Schutz vor Grippewellen zurückzuführen. Aus dieser Erkenntnis sollten Lehren für die Verbesserung der Pflegesituation für Menschen im hohen Alter abgeleitet werden, bekräftigt Gellert.

"Auch wenn nicht alle Menschen 100 Jahre alt werden möchten, so wird dies zu einem immer realistischeren Szenario. Der medizinische Fortschritt hat die Bedingungen für ein erfolgreiches Altern verändert. Darüber hinaus spielt soziale Unterstützung eine große Rolle, um Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern oder abzumildern. Wie hoch das natürliche Alter des Menschen ist, lässt sich schwer bestimmen. Ohne Zweifel aber gibt es ein natürliches Ende, das biologisch determiniert ist. Daran führt für uns Menschen kein Weg vorbei", fasst Gellert seine Überlegungen zusammen.