Dienstagsdialog des Förderfonds Wissenschaft in Berlin

Regionale Lebenserwartung in Deutschland. Spiegelbild der sozioökonomischen Lage?

11. Januar 2022

 
Mit Prof. Dr. Roland Rau

Professor für Demographie, Universität Rostock, und
Senior Research Scienist, Max-Planck-Institut für demografische Forschung
 

Roland Rau hält seinen Vortrag im Rahmen des Dienstagsdialogs zum Thema "Regionale Lebenserwartung in Deutschland. Spiegelbild der sozioökonomischen Lage?". In einer Kooperation mit Carl Schmertmann von der Florida State University berechnete Roland Rau die Lebenserwartung auf Kreisebene mit modernen Verfahren. In einem komplexen Modell wurde für alle der über 400 deutschen Kreise die Lebenserwartung getrennt für Frauen und Männer geschätzt. Die Ergebnisse zeigen einen deutlichen Unterschied zwischen den Kreisen im Osten und im Westen des Landes, aber es gibt auch kleinräumigere Unterschiede. Die höchste Lebenserwartung ist im Süden zu verzeichnen, wobei hier keine Ländergrenzen erkennbar sind. So gibt es fließende Übergänge von Kreisen mit relativ niedriger Lebenserwartung von Thüringen nach Ostbayern.

Im nächsten Teil des Vortrags widmet sich Professor Rau den potentiellen Faktoren, die für diese räumliche Diversität verantwortlich sind. In informativen Streudiagrammen werden Variablen wie die Bevölkerungsdichte, die Ärztedichte oder das Bruttoinlandsprodukt mit der Lebenserwartung beider Geschlechter korreliert. Fragen, die in diesem Zusammenhang aufgeworfen werden, sind: Sind Bewohner des ländlichen Raums gegenüber der Stadtbevölkerung benachteiligt und finden sich Hinweise für die Notwendigkeit einer wohnortnahen ärztlichen Versorgung mit Blick auf die Lebenserwartung? In den Diagrammen ist dazu kein klarer Trend erkennbar.

Weiterhin untersucht Professor Rau in seiner Studie den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lebenserwartung. Hier kann man einen linearen Zusammenhang vermuten, eine einprozentige Zunahme der Arbeitslosenquote verringert etwa die Lebenserwartung für Männer um 0.24 Jahre. Allerdings müsse man auch bei der Interpretation dieser Ergebnisse vorsichtig sein, denn im Einzelfall könnten die Unterschiede relativ groß sein. Bei gleicher Arbeitslosigkeit könnten bis zu drei Jahre Differenz in der Lebenserwartung beobachtet werden. Dies unterstreicht, dass es nicht möglich ist, von den Aggregatsergebnissen auf eine Korrelation auf individueller Ebene oder sogar auf eine etwaige Kausalität zu schließen.

Dennoch spiegeln die Ergebnisse wider, was aus anderen Studien bekannt ist: Menschen mit höherem sozioökonomischen Status haben im Durchschnitt auch eine höhere Lebenserwartung. Aber warum ist das so? Daten aus den USA, die beispielhaft für die Forschungsergebnisse aus vielen anderen Ländern verwendet werden, zeigen unabhängig von der jeweiligen Altersgruppe, dass mehr Bildung auch bessere Gesundheit bedeutet. Auch geht eine höhere Bildung seltener mit ungesunden Lebensweisen wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Fettleibigkeit einher. Individuelles Verhalten hat demnach einen Einfluss, der räumliche Kontext sollte aber nicht vernachlässigt werden. Teilweise findet sich auch eine umgekehrte Kausalität, dass schlechte Gesundheit den niedrigeren sozioökonomischen Status bedingt. Die Forschung hat darüber hinaus festgestellt, dass sozioökonomische Unterschiede sich auch in erfolgreichen westlichen Wohlfahrtsstaaten in den letzten Jahrzehnten verstärkt haben, wie zum Beispiel in dem oft als "Musterland" angeführten Schweden. Die Mechanismen hinter dieser Entwicklung sind noch nicht eindeutig geklärt.

Professor Roland Rau schließt mit der Frage, was man also tun kann, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Da die exakten Wirkmechanismen noch immer unbekannt sind, verweist Rau auf die Wichtigkeit weiterer Studien und der Erhebung und Nutzung zusätzlicher Daten für die Forschung, insbesondere um einzelne wichtige Variablen und ihre Bedeutung für die menschliche Lebenserwartung und ihre Varianz einzuordnen.